Der Mythos: Ritter von Gral
Teil 1
Wie alles begann ...
„Mein lieber Mattes, hab keine Furcht vor mir! Ich bin es doch. Ich bin gekommen, um dich zu warnen. Denn du musst wissen: Die Pest ist nah. Sie wirft schon ihren Schatten auf unsere Heimat und wenn sie erst hier ist, gibt es keine Rettung mehr für dich, für das Dorf oder für Chóśebuz. Aber du hast die Macht, dieses finstere Schicksal abzuwenden. Darum zögere nicht! Ziehe hinaus in die Welt und versammle eine Schar von tüchtigen Recken und Maiden um dich. Halt Ausschau nach Gefährten, die die Gabe haben, die Leute zu überzeugen. Gemeinsam könnt ihr die Menschen von hier vor einem grausamen Tode bewahren.“
Doch lasst uns einen Augenblick innehalten. Ich bin gar heiser vom vielen Erzählen … Seid Ihr so lieb und bringt mir einen Trunk, um meine Kehle zu ölen? … Habt vielen Dank.
Am folgenden Tag brachen die Männer früh auf, um die nächste große Universitätsstadt zu erreichen. Sie erreichten ihr Ziel erst, als eine fahle Mondsichel am Firmament erschien. Nun galt es, Bündnispartner für die bevorstehende Mission zu rekrutieren. Nilrem war sich sicher, dass es einige Überzeugungsarbeit kosten würde, Menschen zu gewinnen, die einem unansehnlichen Alten und einem schüchternen Jüngling ins Ungewisse folgen würden.
Vernehme ich da einen Zwischenruf? Weiß der erlauchte Herr es wieder einmal besser? So erzähle er denn weiter! Ich ziehe mich derweil in meine Gemächer zurück. … Doch eure langen Gesichter verraten mir, dass euch das nicht genehm ist. So will ich denn fortfahren:
Nilrem versammelte die Gefährten um sich und wies sie an, einen jeden verwaisten Pesthof niederzubrennen, ohne auch nur einen Heller von dort mitzunehmen. Er erläuterte, dass die Seuche von den bedauernswerten Opfern auf deren Besitztümer überzugehen pflege, von wo sie sich, gleich einem Fluche, auf die neuen Besitzer übertrage. Daher stellten verlassene Pesthöfe eine Gefahr dar, denn sie seien voller Güter, denen die Seuche anhaften könne – Geld und Geschmeide, Nahrungsmittel oder auch Wolle und Rauchwaren. Güter also, die Begehrlichkeiten wecken.
Von ihrem Verstecke aus sahen die achtzehn Gefährten eine Gruppe von schwer bewaffneten Raubrittern einreiten und dann – unter Gebrüll und wüsten Flüchen – den brennenden Hof verlassen.
Da wir gerade vom Feuer sprechen: Unser stolzes Lagerfeuer ist zu einem recht kläglichen Gluthäuflein zusammengeschrumpft. Lasst uns geschwind Holz nachlegen und die Flammen anfachen, bevor wir fortfahren, denn ich spüre schon das Reißen in meinen alten Gliedern … Aaah, das ist besser.
Was wohl passiert wäre, wenn die Raubritter unsere Helden entdeckt hätten? Man mag es sich nicht ausmalen …
„Wir haben beschlossen, euch zu Ehren einen Ritterorden zu stiften. Euer Wappen soll einen stolzen Helm zeigen. Doch wir sind noch unentschlossen, welchen Namen der Orden tragen soll.“
„So ernenne ich euch hiermit zu den ehrenwerten Rittern von Gral.“
Vernehme ich da ein ritterliches Schnarchen? Recht habt Ihr, denn es ist spät geworden. So lasst uns denn einkehren auf das wir Kraft schöpfen für unseren nächsten großen Feldzug. Ich wünsche Euch allen eine erholsame Nacht.
Der Erzählung zweiter Teil
Wie schon so oft bewiesen die Ritter auch in dieser Lage ihr Talent, kluge Pläne zu entwerfen und in die Tat umzusetzen. Sie errichteten eine Zeltstad t unter dem Schutze des Gralswappens und der junge Ritter Eberhart Hollan hielt im Namen des Vogts eine, nun ja, flammende, Rede, von der man in Chóśebuz/Cottbus noch lange sprechen würde. Darin überzeugte er die Städter, dass sie nur bestehen könnten, wenn sie alle an einem Strange zögen. Ihr müsst wissen: Eberhart war ein direkter Nachfahr des edlen Mattes. Wie sein Vorfahr trug er an seinem linken Arme ein Mal, das an das Wappen derer von Gral gemahnte – und wie Mattes war auch er mit einer fast übernatürlichen Überzeugungsgabe gesegnet. Dieses wundersame Talent bewies er jetzt, da er die Städter auf die ritterlichen Tugenden einschwor.
Und so sprach er über die sechs edlen Tugenden aus unserem Ritterkodex – dieselben Tugenden, die hier in güldenen Lettern auf unserer Schautafel verzeichnet sind. Aber zurück zum großen Stadtbrand von Chóśebuz/Cottbus.
Auch wichtige Schriftstücke waren verbrannt. Und die Ritter verzeichneten ebenfalls einen schmerzlichen Verlust: Denn die Werkstatt des Mattes und seine Kunstwerke, die sie immer in hohen Ehren gehalten hatten, waren unwiederbringlich verloren. Das traf vor allem Eberhart, doch ihm blieb nur wenig Zeit, zu trauern, denn die Zukunft hielt große, ja epochale Prüfungen für ihn bereit. Aaach, der Husten plagt mich und meine Stimme ist gar rau! Man reiche mir einen Rittertrunk, um meine Kehle zu besänftigen. … Habt vielen Dank! Mich deucht, der Trunk wird mit jedem Tage besser. Nun denn, so will ich fortfahren.
Und dabei kam ihnen der Zufall zu Hilfe. Es war nämlich so: Der große Brand hatte der Stadtmauer arg zugesetzt, so sehr, dass ein großes Stück aus dem alten Gemäuer herausgebrochen war. Wie das Schicksal so spielte, befand sich das Loch auf dem Grunde, das dereinst die Herren von Cottbus den Rittern überlassen hatten und auf dem sich seither die ritterlichen Quartiere befanden. Der Vogt von Cottbus war entsetzt ob dieses Einfallstores für Schurken und feindliche Soldaten.
Doch der redegewandte Ritter Eberhart überzeugte ihn davon, dass dieses Loch nicht von Nachteil sein müsse und er rang ihm die Erlaubnis ab, an dieser Stelle ein verdecktes Tor für die Ritterschaft zu errichten – unter drei Bedingungen: Dass nämlich die Ritter für dieses Privileg einen Zins zu entrichten hätten, dass sie dieses Tor stets zu bewachen hätten und dass möglichst wenige Menschen von dem Privileg erführen . Seither verfügten die Ritter und ihre Informanten über die Möglichkeit, die Stadt jederzeit ungesehen zu verlassen.
In diesem dichten Walde befand sich eine verlassene Bärenhöhle, die einst einem alten Kräuterweiblein gehört hatte, einer weisen Frau aus dem Orte Burg, die den Rittern gar viele Male geholfen hatte. Zu Lebzeiten hatte sich die weise Alte stets dorthin zurückgezogen, wenn die Burger sie anfeindeten und der Hexerei bezichtigten. Die Ritter hatten ihr diese Höhle mit Lehm, Holz und Tierhäuten zu einem Unterschlupf ausgebaut. Dann, vor wenigen Sommern, hatte der Schnitter das Kräuterweiblein geholt und das Versteck war in die Hände der Ritterschaft übergegangen.
Das Wimmern wurde lauter. Da erblickte Eberhart einen mageren Knaben, der sich ängstlich an die Höhlenwand drängte und seinen linken Arm an die Brust presste. Das Kind zählte etwa sieben Lenze. Es war in gutes Tuch gehüllt, doch sein Hemd war über und über mit frischem Blut getränkt. Jetzt war schnelles Handeln gefragt. „Fürchte dich nicht“, sprach er, „ich werde dir helfen. Was ist dir widerfahren?“ Der Knabe versuchte, zu antworten, doch der Schmerz schüttelte seinen Leib, sein Atem ging stoßweise und statt eines wohlgeformten Wortes entrang er sich nur ein weiteres hilfloses Wimmern. Mit letzter Kraft zog er seinen linken Ärmel hoch und enthüllte eine tiefe, sprudelnde Wunde. Eberhart riss sogleich das Hemd des Kindes in Streifen.
Die Ritter beschlossen, ihm den gefährlichen Ritt zu ersparen. Bis es ihm besserginge, würden sie es in der Höhle versorgen. Bald eilten die anderen zur Stadt zurück, um weitere Güter vor den Belagerern in Sicherheit zu bringen. Derweil wachte Eberhart die ganze Nacht am Lager des Knaben, und als der Morgen graute, mischte er einen stärkenden Kräutertrunk und so manche Tinktur zusammen, ganz so, wie es ihn dereinst die weise Frau gelehrt hatte.
Der Weg war zwar weit, doch der Pfad zur Burg war nicht mehr so unwegsam wie zu Mattes‘ und Nilrems Zeiten und ein guter Teil der Reise war per Ochsenkarren zu bewerkstelligen, zumindest in den ersten Jahren des Krieges. Und nicht jeder musste so weit fliehen. Hunderten weiteren halfen die Ritter, den Gefechten zu entrinnen, bis die kriegerischen Truppen weitergezogen waren. Zudem ritten Eberhart und seine Ritterbrüder bis nach Goltzen, Dobrilug und Budissin, denn sie suchten in den Städten und Dörfern nach Mitstreiter für ein verdecktes Netz aus Bürgerwehren, die an vielen Stellen der Lausitz bereitstehen sollte, um die Bevölkerung zu schützen, wann immer die Kriegsparteien plündernd und brandschatzend durch die Dörfer zögen.
So war es auch vor wenigen Tagen gewesen – doch in der Nähe von Briesen endete die Reise der beiden jäh, denn die Soldaten des Wallenstein hielten die Kutsche an. In barschem Tone befahlen sie dem Groninger, auf der Stelle auszusteigen. Dann drängten sie ihn, ihnen unverzüglich seinen Goldschmuck und seinen edlen Pelzmantel auszuhändigen. Sie waren schon im Begriffe, mit der Kutsche des Mannes davonzufahren, als sie den verängstigten Knaben entdeckten. Plötzlich kam ihnen ein Einfall: Sie wollten noch mehr von den Reichtümern des Kaufmannes für sich einheimsen. Daher befahlen sie dem Kaufmann, sie sogleich zu seinem Gute zu leiten, falls ihm das Leben seines Kindes lieb sei. Als einer der Soldaten das Schwert auf die Kehle des Knaben richtete, um seine Forderung zu unterstreichen, konnte der Mann nicht mehr an sich halten: Er stürzte sich auf den Soldaten – und wurde kurz darauf von dessen Schwert durchbohrt. Der Knabe sah dies, und im Versuche, seinem Vater zu helfen , schlang er mutig seinen Arm um die Kehle des Soldaten und drückte zu.
Daraufhin ließ dieser vom Vater ab und stach auf das Kind ein. So also war Keno zu seiner schweren Wunde gekommen! Was danach geschah, wusste der Knabe nicht mehr, er erinnerte sich nur noch daran, dass er mit großen Schmerzen und zitternd vor Kälte auf dem nassen Waldboden aufgewacht war. Mit Mühe hatte er sich aufgerappelt und war durch den Wald geirrt, bis er durch einen glücklichen Zufall auf die Höhle gestoßen war. Zwar war diese mit einem schweren Gitter verriegelt, doch dem schmalen Kinde war es gelungen, sich durch die Stäbe hindurchzuzwängen.
Es war eine schwere Zeit, denn die verfeindeten Kriegsparteien – die Truppen der Katholischen Liga und der Protestantischen Union – zogen immer wieder durch die Lausitz, wo sie sich erbitterte Gefechte lieferten, sehr zum Leidwesen der Bevölkerung. Es versteht sich, dass die Ritter und die Bürgerwehren nicht eigenhändig das kaiserliche Heer und die schwedischen Truppen bezwingen konnten. Doch sie hielten zusammen und kämpften weiter für das Wohl der Bevölkerung. Gemeinsam verhinderten sie so manche Plünderung, sie hielten die Besatzer so gut als möglich in Schach. Darüber hinaus verhalf die Ritterschaft Hunderten von Menschen zur Flucht. Und wenn der Hunger in Chóśebuz/Cottbus groß war, schaffte sie Vorräte heran. Heute wird von diesen Heldentaten nicht mehr gesungen, aber wir Ritter halten das Erbe lebendig!
So vergingen die Jahre. Eines Tages beschloss Bernwart, der oberste Ritter von Gral, dass es an der Zeit sei, das Szepter an einen würdigen Nachfolger zu übergeben. In einem festlichen Akte kürte er Eberhart zum obersten Ritter, sehr zur Freude der Ritterschaft. Und so trat der vorausschauende, kenntnisreiche und gütige Eberhart in seinem sechzigsten Jahre in die würdigen Fußstapfen seines Vorvaters Mattes. Für gewöhnlich finden solcherlei Zeremonien im geschlossenen Kreise der Tafelrunde statt. Doch der Stadtvogt ließ es sich nicht nehmen, der Feier beizuwohnen, um einen der heimlichen Helden von Chóśebuz/Cottbus zu ehren. Nach einer ergreifenden Laudatio gab er seinen Dienern ein Zeichen. Daraufhin trugen diese ein in Tücher gewickeltes Gebilde in den Rittersaal, setzten es vor dem neuen obersten Ritter ab und enthüllten es feierlich. Staunend erblickte die Tafelrunde einen üppig verzierten Thron aus Ebenholz.
Eines Tages, als er aus einem solchen Zustande erwacht war, erklärte er, eine Stimme habe zu ihm gesprochen und ihm einen Auftrag erteilt. Er entwarf Skizzen, versetzte seine gesamte Habe und kaufte Ebenholz. Dann begab er sich auf eine lange Reise, von der er mit einem merkwürdigen Bündel zurückkehrte. Er trug dies Bündel wie einen großen Schatz, doch als er es enthüllte, blickten seine Freunde verständnislos auf ein merkwürdiges altes Holzbrett mit runenartigen Insignien. Erst später würde einer von ihnen behaupten, es handle sich um ein Stück vom Hliðskialf, dem magischen Throne des Odin. Doch wir wissen nicht, woher das Holz stammte. Wie dem auch sei, der junge Mann begann, fieberhaft zu arbeiten. Er hämmerte und sägte, hobelte und schnitzte mit erstaunlicher Kunstfertigkeit – und gönnte sich dabei keine Pause.
Und wenngleich sein Antlitz bedenklich einfiel, wies er störrisch jede Speise zurück, die ihm seine besorgten Gefährten in die Werkstatt brachten. Nur ein Schlückchen belebenden Rebsaft nahm er gerne an. Der tat ihm wohl, genügte aber nicht, um den Verfall seines Leibes aufzuhalten. Doch in dem Maße, in dem sich der Zustand des Jünglings verschlechterte, wurde das meisterhafte Möbelstück unter seinen Händen prächtiger. Eines Morgens schließlich fanden ihn seine Freunde entkräftet auf dem staubigen Boden seiner Werkstatt vor. Er lag zu Füßen eines herrlichen Thrones von Ebenholz. Voller Sorge trugen die Freunde den jungen Mann auf sein Lager. Da blickte er ihnen in die Augen, öffnete seine verdorrten Lippen und sprach mit letzter Kraft: „Meine lieben Freunde, es ist vollbracht. Dieser Thron wird mehr als einen Herren oder eine Herrin haben.
Er wird vielen Auserkorenen dienen, Menschen, die das Schicksal für eine große, ja übermenschliche Aufgabe erwählt hat. Sie müssen den Thron nicht suchen, er wird den Weg zu ihnen finden. Jeder Auserkorene wird seine wundersame Kraft kennenlernen, wenn er sie am dringendsten braucht, denn ich habe seine Lehne aus magischem Holze gefertigt. Bald schon wird ein Reisender kommen, der in großer Sorge um seinen Fürsten ist. Gebt ihm diesen Thron. Und bis dahin gebt gut darauf acht, denn es gibt keinen zweiten Thron dieser Art. “ Kaum hatte der junge Mann zu Ende gesprochen, da ging ein Ruck durch seinen Leib. Ein letztes Mal riss er die Augen weit auf, bevor er sie für immer schloss.
Aber was hat es zu bedeuten, dass der Thron seinen Weg zu Eberhart fand: War er etwa einer der Erkorenen? Und wieso ist der Thron bis heute in den Händen der Ritterschaft? Geduldet euch meine Freunde! Davon werde ich euch beim nächsten Mal berichten.
Für jetzt möchte ich wieder von dem Jahre sprechen, in dem Eberhart zum obersten Ritter gekürt wurde. Denn in jenem Jahr fand noch eine weiterer wichtiger Festakt statt: Am 21. Juli 1642 wurde der wackere Keno zum Ritter geschlagen.